Spekulative Nomaden – Future Lab 2 im Weltkulturerbe Völklingen

FUTURE LAB als Lebens- und Arbeitsraum

Die ehemalige Erzhalle im Weltkulturerbe Völklinger Hütte beherbergt dieser Tage erfrischend viel Neues: Arbeitsplätze für Studierende, Kunst-Exponate sowie Grünzeug zum Essen, Trinken und Rauchen. Ein Besuch im FUTURE LAB 2 – Spekulative Nomaden.

Studierende forschen und leben im Zukunftslabor

Immer dienstags ab 16 Uhr sind die großen, schweren Tore des Weltkulturerbe Völklinger Hütte besonders weit geöffnet: Eintritt frei ist dann das Motto. Es bleiben dann noch gute drei Stunden, bis die netten Mitarbeitenden anfangen, einen höflich vom Gelände zu kehren. Drei Stunden reichen völlig aus, um immer wieder Neues zu entdecken. Im Oktober 2021 nutzte ich die Zeit, um mir die Ausstellung „FUTURE LAB 2 – Spekulative Nomaden“ anzuschauen.

Nehmen wir zunächst den Titel der Ausstellung auseinander: Das in der Erzhalle installierte FUTURE LAB (zu deutsch: Zukunftslabor) bietet Akteur:innen der Hochschule der Bildenden Künste Saar Lebens- und Arbeitsraum. In einer Ecke stehen lange, große Tische zum gemeinsamen Arbeiten und Studieren, Werkeln und Essen, während der Rest der ehemaligen Industriehalle mit ihren irrsinig hohen Decken ausreichend Platz bietet für Performances und eine Ausstellung. Hier trifft Wissenschaft und Forschung auf Kunst und Alltag – dabei immer im Blick die Frage: Wie werden wir mit den Veränderungen leben, die in den letzten zwei Jahrhunderten durch den Menschen und die Industrialisierung entstanden sind?

Das Erbe der Industrialisierung

Damit ist der erste Teil des Ausstellungstitels „FUTURE LAB“ geklärt. Aber was genau ist ein spekulativer Nomade? Dazu bieten die Ausstellungsverantwortlichen folgende Erklärung:

Vielleicht hilft Ihnen ein Bild weiter: Ein Industrieller sieht den Fluss und die Kohle. Er baut an dieser Stelle seine Fabrik und entzieht dem Fluss und Boden, was er braucht. Ein spekulativer Nomade sieht den Fluss, nimmt daraus Wasser zum Trinken und zum Waschen, sammelt Treibholz, lässt die Kohle Kohle sein — und zieht weiter.

Den spekulative Nomade vestehe ich demnach als eine Art Gegenentwurf zum klassischen Industriellen, also einer Ausprägung menschlicher Zivilisation, die in den letzten zwei Jahrhunderten ordentlich Raubbau an der Natur betrieben hat. Dass die Ressourcen unserer Mutter Erde endlich sind, wird in Zeiten der Fridays For Future-Bewegung immer mehr zum Allgemeinwissen.

Im Zukunfslabor „Spekulative Nomaden“ beschäftigen sich die Akteur:innen im Kontext dieses post-industriellen Zeitalters mit aktuellen sowie zukünftigen Wohn-, Arbeits- und Lebensformen. Mittels „künstlerischen Forschung“ solle Einfluss auf notwendige gesellschaftliche Entwicklungen genommen werden. Es gehe um Aktion und Praxis, um neue Realitäten und fiktive Zukünfte — ausgehend von Kunst, Design und Leben. Das „Spekulative“ im Titel sei wörtlich zu nehmen: Es gehe darum, ergebnisoffen Fragen zu stellen und gesellschaftliche Prozesse anzustoßen.

Weibliche Wut und glitzernder Konsum

Am Eingang zum FUTURE LAB liegen eine handvoll Ausstellungs-Guides zum Ausleihen bereit. Darin steht in großen Lettern auf den ersten Seiten „Ich bin wütend! Deshalb sticke ich!“. Tara Allinger betreibt mit ihrer Textilkunst Art-Aktivismus. Was auf den ersten Blick einfach nur hübsch und bunt erscheint, ist auf den zweiten ein politisches Statement. Zu Tara Allingers Werk steht im Guide: „Wut will Veränderung und wenn man gehört werden möchte, muss man laut sein. Das geht auch ohne Brüllen. (…) Das Medium der Textilkunst ist stark mit der Hausfrau verbunden, die unentgeltliche Arbeit leistet und altmodische, dekorative Handarbeit fabriziert.“ Ihr geht es darum, dass Frauen sich nicht gegenseitig ausstechen wollen. „Ich möchte, dass wir erkennen und verinnerlichen, dass es genug Platz für alle Frauen gibt.“

Polina Trishkina hat sich auch mit Textilien auseinandergesetzt. Konkret: Sie hat eine Ledertasche und einen Schuh zwei Jahre lang einem uralten Kristallisierungsprozess unterzogen und dabei die Halitstufen beobachtet. Aus ihrer Sicht haben die Themen Konsum, Naturprozesse, Zeit, Geologie und Umwelt eine tiefe Verbindung miteinander, speziell der Blick auf Konsum und sein Einfluss auf die Umwelt.

Ihre Skulpturen entstanden durch eine strenge Kontrollen der Raumtemperaturen sowie einer langsamen Integration von speziellen Salzlösungen. Man stelle sich vor, diese Prozesse finden tatsächlich mit unseren Alltagsgegenständen – wie sie leider allzu oft in Wäldern, an Flüssen und sonstigen Stellen (un)berührter Natur hinterlassen werden – statt. Würden die Aliens dann in ferner Zukunft landen und diese anthropologischen ARtefakte in den Sedimentschichten entdecken und sich wundern?

Unter dem Titel „Wasser“ zeigt die Ausstellung außerdem Ergebnisse eines Workshops, bei dem sich die Studierenden mit der Ressource Wasser und dessen Knappheit auseinandersetzten. Daneben gibt es u.a. Video-Installationen, eine naturverbundene pädagogisch wertvolle Gestaltung künftiger Spielplätze und eine Armee weißer Prozellanfiguren, das sogeannte Zwangsarbeiterinnen-Denkmal, zu bestaunen.

Hopfen und Tabak gewonnen

Entlang der gesamten Hallenlänge hängt Virginischen Tabak in langene Bahnen aufgefädelt an der Decke. Eine Produktion von Mia Winterholler, die sich in ihrer Projektarbeit mit dem Phänomen auseinander, dass Tabak als Kulturflüchter gilt. „Das bedeutet inder Botanik, dass es sich um eine Pflanzenart handelt, die die Nähe des Menschen meidet“, so steht’s im Guide. Trotzdem habe der Mensch über Jahrhunderte Tabak angebaut. Ob es nur die Sucht und das wirtschaftliche Interesse sei oder man der Pflanze doch etwas abgewinnen könne? Diese und weitere Fragen treibt sie um.

Zum Rauchen wäre also was da. Wer eher dem Hopfen zugetan ist, der erfreut sich beim Verlassen der Ausstellung an dem frischen Grün, das im wiederwilligen Kontrast zum rot-grauen Stahl die Kulisse am Weltkulturerbe aufpeppt.

Doch bevor ich den Hopfen draußen entdeckte und mir dabei die Idee kam, auf dem Nachhauseweg für ein kühles Bierchen in einer der verbliebenen Stammkneipen in Völklingen einzukehren, wurde ich aufgehalten.

Veränderungen im Gange

Während ich den Guide zurücklegte, wurde ich von den Personen, die im Eingangsbereich an den oben erwähnten Tischen saßen und arbeiteten, angesprochen. Ob mir der Guide geholfen hätte und was ich an Inspiration mitgenommen hätte, wurde ich gefragt. Wir tauschten uns ausführlich dazu aus und kamen dann auch auf das Thema „Ausgehoptionen in Völklingen“. Ich erwähnte und empfahl „Es Café“, eine Kneipe, in der bereits mein Vater in jungen Jahren am Tresen saß. Insgesamt viel Kopfnicken, viel gegenseitiges Bestätigen der wahrgenommenen Herausforderung, in Völklingen wertvolle Orte des Zusammenseins zu erleben.

Heftiges Kopfschütteln dann auf dem Heimweg. Die Kneipe, wie ich sie kannte, gibt es nicht mehr. Die Räumlichkeiten sind noch da, das Schild hängt noch, aber alles andere ich verändert. Wo früher alte Schilder und Fotos von den unvergesslichen Momenten im Café erzählten, stehen heute zwei Spielautomaten. Hinter der Theke ein Mann, den ich vorher noch nie gesehen habe. Im mannshohen Coca-Cola Kühlschrank neben der Theke steht Bitburger Flaschenbier und allerlei Softdrinks in Dosen. Die jahrzehntelange gewachsene Patina auf Boden, Wänden und Tischen ist Geschichte, stattdessen erstrahlt das Kneipeninnere in neuen Farben, Plastiktischdecken überlagern die alten Geschichten der Kneipenmöbel. Sogar der Tresen ist in Plastik eingepackt.

Es Café ist also in neuem Besitz – und zwar in einem, in dem ich mich ehrlich gesagt fremd fühle. Ob das nun mit der Corona-Pandemie zusammenhängt oder einfach nur mit dem Lauf der demografischen Veränderungsprozesse meiner Heimatstadt, das weiß ich nicht. Jedenfalls wird die noch nicht zu Ende genutzte 10er-Karte für erfrischende Hopfenendprodukte nun aus meinem Geldbeutel entfernt und in einer meiner vielen „Erinnerungskisten“ ein neues Zuhause finden.

Den Akteuer:innen aus dem FUTURE LAB empfehle ich an dieser Stelle, dann doch die laboreigene Infrastruktur fürs verdiente Feierabendbier zu nutzen. Denn solch inspirierende und einladende Örtchen wie die Erzhalle sucht man in Völklingen mittlerweile wirklich lange.

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